Mehr Forschungsimpulse und neue Kernaufgaben
Evidenzbasiert heißt vor allem, dass mehr Forschung rund um die Heilmittel durchgeführt werden. „Eine zukunftsfähige Patientenversorgung braucht (…) ergotherapeutische, logopädische/sprachtherapeutische und physiotherapeutische Forschung an Fachhochschulen und Universitäten“, so der HVG in einer Stellungnahme von 2020. Das Bündnis „Therapieberufe an die Hochschule“ ergänzt dazu in einem FAQ: „Aufgrund der fehlenden akademischen Anbindung gingen bisher nur geringe Forschungsimpulse von Deutschland aus. Bereits 2012 forderte der Gesundheitsforschungsrat des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, dass den Therapieberufen eine auf den eigenen Beruf bezogene Forschung ermöglicht werden müsse und diese auf europäischer und internationaler Ebene zu vertiefen sei.“ Mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die die Forschung hervorbringt, lassen sich demnach Kompetenzen entwickeln, die „eine kritische Auseinandersetzung mit Versorgungskonzepten und eine evidenzbasierte Praxis ermöglichen“, so das Bündnis.
Natürlich stellt sich die Frage, ob es denn notwendig ist, dass alle zukünftigen Therapeuten solche Kompetenzen benötigen. Beispielsweise betont das Bündnis in seinem FAQ, dass Vorwürfe gegen eine Vollakademisierung in anderen Berufsbereichen – z. B. in technischen Berufen – nicht zu hören seien. Und dennoch: In technischen Berufen gibt es sowohl jene, die eine klassische Berufsausbildung absolviert haben (z. B. Elektrotechniker) als auch jene, die an einer Hochschule ein Ingenieursstudium durchgeführt haben. Sollen Heilmittelpraxen ausschließlich – rein bildlich gesprochen – „Ingenieure“ anstellen? Müssen sämtliche Therapeut:innen die Kompetenzen haben, die eine hochschulische Ausbildung vermittelt? Oder ist die hochschulische Therapeut:innenausbildung nicht eher etwas für jene, die beispielsweise die Praxisleitung übernehmen?
Für das Bündnis „Therapieberufe an die Hochschule“ jedenfalls zählt ein solches Kompetenzniveau zu den Kernaufgaben der Therapieberufe – also nicht nur für die Praxisleistung. „Die Therapie ist ein fortlaufender und vor allem interaktiver Prozess“, sagt Prof. Dr. Borgetto vom Bündnis. „Informationsaufnahme, Befund, Behandlung und fortlaufende Entscheidungsfindung zur möglichen Anpassung der therapeutischen Maßnahmen müssen aus einer Hand kommen, um das bestmögliche Therapieergebnis zu erzielen. Gerade die Reaktionen auf die Behandlung von Patient:innen im Laufe einer Therapiesitzung verschaffen Erkenntnisse, die wiederum vor dem Stand des verinnerlichten wissenschaftlichen Wissens reflektiert werden und in fortlaufende Entscheidungen einfließen.“ Nach Borgettos Auffassung sei es nicht praktikabel, mehrere Entscheidungen in einer Behandlungseinheit mit der Leitung einer Praxis anzusprechen. „Jede:r Therapeut:in soll den jeweils eigenen Wissensstand kontinuierlich weiterentwickeln können“, so Borgetto. (Das gesamte Interview, das wir mit Prof. Dr. Borgetto führten, gibt es demnächst hier im neuen DMRZ.de-Blog!)
Die „Unteilbarkeit der Berufe“
Aus solchen Gründen sei auch aus Sicht des gesamten Bündnisses „Therapieberufe an die Hochschule“ eine „Unteilbarkeit der Berufe“ entscheidend. „Die Fortsetzung bzw. der Ausbau der bestehenden Teilakademisierung sind keine Lösung. Das Nebeneinander von hochschulischer und berufsfachschulischer Ausbildung ist weder fachlich begründbar noch ökonomisch zu vertreten“, steht im FAQ des Bündnisses geschrieben.
Grund für ein Umdenken ist das Aufkommen neuer Herausforderungen der Patient:innenversorgung. „Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung, des Fortschreitens des medizinisch- technischen Fortschritts und des sich wandelnden Tätigkeitsspektrums werden sich die Qualifizierungsbedarfe in den Therapieberufen deutlich verändern“, erklärt das Bündnis. Beispielsweise müssten Therapien und Beratungen zukünftig weit mehr individuell geplant, angewendet und evaluiert werden als heute.