Interview Bernhard Borgetto (Bündnis Therapieberufe)
Heilmittel

Bernhard Borgetto (Bündnis Therapieberufe): „Eine Vollakademisierung der Therapieberufe reduziert Kosten“

Warum wurden die Modellstudiengänge immer wieder verlängert – auch darüber sprachen wir im Interview mit Prof. Dr. Borgetto.

Prof. Dr. Bernhard Borgetto von der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen (HAWK) ist im Hochschulverbund Gesundheitsfachberufe (HVG) sowie im Bündnis "Therapieberufe an die Hochschulen" aktiv tätig. Im ersten Teil unseres Interviews sprachen wir mit darüber, warum er die Vollakademisierung der Therapieberufe vorzieht. In zweiten Teil möchten wir darauf tiefer eingehen.

Herr Prof. Dr. Borgetto, ein Stichwort, das bei der Forderung nach Vollakademisierung immer wieder fällt, ist „evidenzbasiert“. Was genau ist damit gemeint? Und warum ist es undenkbar, dass sich evidenzbasiertes Arbeiten nicht auch über eine Berufsfachschule erlernen lässt?

Bernhard Borgetto: Mit evidenzbasierter Therapie ist gemeint, dass den Therapieentscheidungen die bestmögliche externe Evidenz zugrunde gelegt wird – also die aussagekräftigsten Ergebnisse aus empirischen Studien. Die Beurteilung der Aussagekraft einer Studie ist aber genau das Problem. Häufig wird darunter missverstanden, dass es ausreicht, wenn irgendeine Institution darüber entscheidet, ob eine Therapieform grundsätzlich wirksam ist und bei bestimmten Diagnosen angewendet werden darf. Wer evidenzbasierte Therapie so versteht, kann natürlich auf die Idee kommen, dass nicht jede:r Therapeut:in in der Lage sein müsse, aktuelle Studienergebnisse selbst kritisch zu rezipieren, um sie fallbezogen gemeinsam mit Patient:innen anwenden zu können.

Eine optimale Versorgung basiert aber genau darauf. Auf der Anpassung der konkreten Entscheidungs-, Handlungs- und Interaktionsprozesse im individuellen Therapieverlauf, die sich (auch) an der jeweils besten verfügbaren externen Evidenz orientieren. Eine externe Evidenz die auf den Fall bezogen kritisch bewertet wird und aus der die richtigen praktischen Schlussfolgerungen gezogen werden.

Eine evidenzbasierte Praxis, kritische Auseinandersetzung mit Versorgungskonzepten, die Entwicklung von wissenschaftlichen Kompetenzen, prozessbegleitende Diagnostik und Behandlungsplanung … Solche Schwerpunkte der hochschulischen Ausbildung klingen vermehrt nach Kompetenzen, die für die Leitung einer Heilmittelpraxis fundamental sind. Aber auch für alle angestellten Therapeuten?

Bernhard Borgetto: Die Therapie ist ein fortlaufender und vor allem interaktiver Prozess. Informationsaufnahme, Befund, Behandlung und fortlaufende Entscheidungsfindung zur möglichen Anpassung der therapeutischen Maßnahmen müssen aus einer Hand kommen, um das bestmögliche Therapieergebnis zu erzielen. Gerade die Reaktionen auf die Behandlung von Patient:innen im Laufe einer Therapiesitzung verschaffen Erkenntnisse, die wiederum vor dem Stand des verinnerlichten wissenschaftlichen Wissens reflektiert werden und in fortlaufende Entscheidungen einfließen.

Es ist nicht praktikabel, mehrere Entscheidungen in einer Behandlungseinheit mit der Leitung einer Praxis anzusprechen. Jede:r Therapeut:in soll den jeweils eigenen Wissensstand kontinuierlich weiterentwickeln können. Hier liegt der große Unterschied zur medikamentösen Versorgung. Ein Medikament kann nichts über seine Wirkungsweise wissen und kann (und muss) auch keine Entscheidungen in Abhängigkeit von Reaktionen der Patient:innen treffen.

Besteht bei Vollakademisierung nicht die Gefahr, dass Heilmittel für die Kassen und die Versicherten teurer – da hochwertiger und hochklassiger – werden?

Bernhard Borgetto: Bereits heute ist im fünften Sozialgesetzbuch unter § 92 SGB V der Anspruch an eine therapeutische Versorgung der Patient:innen verankert, die dem jeweils aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht und somit dem Wohl und der Sicherheit der Patient:innen dient. Hieran gilt es sich zu orientieren – fachlich, aber auch finanziell.

Gibt es denn konkrete Pläne, dass ein „Mehr“ an Kompetenzen auch besser bezahlt werden? Wenn „mehr Geld“ gefordert wird, stellt sich ja immer auch die Frage nach dem „Woher“.

Bernhard Borgetto: Natürlich fordern wir, dass Therapeut:innen mit Hochschulabschluss der Qualifikation entsprechend – und damit besser als bislang – bezahlt werden müssen. Ob die Entscheidungsträger dazu bereits Pläne haben, ist uns nicht bekannt, dies ist aber in dem derzeitigen Stadium der Reformen kaum zu erwarten. Teuer würde aber auf jeden Fall die langfristige Erhaltung einer doppelten Ausbildungsstruktur – also berufsfachschulisch und hochschulisch – sowie die dauerhafte Abkopplung von internationalen wissenschaftsbasierten Therapiestandards werden. Wichtig ist, dass allen Entscheidungsträger:innen klar ist, dass eine Vollakademisierung nicht einfach nur mehr kostet, sondern an anderen Stellen Kosten auch reduziert.

Ich möchte zudem darauf hinweisen, dass die Bundesregierung in einem Evaluationsbericht zur zweiten Modellphase darauf hinweist, dass bei der hochschulischen Ausbildung im gesamten Gesundheitssystem durch qualitativ höherwertige Therapien Kostensenkungen möglich sind. Das haben dem Evaluationsbericht zufolge mehrere Bundesländer in ihren Landesberichten als Mehrwert genannt. Ebenso auch, dass die Hochschulausbildung Effizienzreserven freisetzen würde und es somit zu Einsparungspotential für das Gesundheitswesen kommen kann.

Bei all dem genannten Mehrwert stellt sich dann aber die Frage, warum die Modellphasen der Heilmittelstudiengänge ständig verlängert werden? Aus welchen Gründen zögern die Gesetzgeber immer wieder?

Bernhard Borgetto: Grundsätzlich gilt: Die Modellstudiengänge sind ein Meilenstein auf dem Weg zu einer regulären und regelhaften akademischen Ausbildung in den Therapieberufen. Jetzt ist die Zeit aber mehr als reif, den nächsten Schritt zu tun – hin zu einer vollständig hochschulischen Ausbildung in den Therapieberufen Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie.

Im Jahr 2016 hatte der Gesetzgeber die Entscheidung über die Modellstudiengänge um vier Jahre vertagt, obwohl die Evaluation damals bereits die positiven Effekte zeigte. In der vergangenen Legislaturperiode lag der Schwerpunkt auf der Bewältigung der Corona-Pandemie. Eine erneute Verschiebung wurde deshalb notwendig. Ursprünglich sollte dies bis 2026 erfolgen. Dagegen haben wir als Bündnis bei der Politik entschieden argumentiert. Am Ende erfolgte die Verlängerung bis 2024, so dass sich die neue Bundesregierung nun endlich mit der Novellierung der Berufsgesetze beschäftigen und in dieser Legislaturperiode verabschieden muss.

Wir haben gegenüber der neuen Koalition bereits während deren Verhandlungen deutlich gemacht, dass für zukunftssichere und bedarfsorientierte Therapieberufe eine Novellierung der Berufsgesetze und eine Vereinbarung mit den Ländern über die Erweiterung entsprechender Studienkapazitäten erforderlich sind.

Ohne Zweifel hat die Bewältigung der Corona-Pandemie den Gesetzgebungsprozess für die Novellierung der Berufsgesetze in den Therapieberufen verzögert. Ein weiterer Punkt ist aber unabhängig davon, die Finanzierung möglicher Studienplätze. Hier braucht es eine Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern über den Aufbau und die Finanzierung entsprechender Studienkapazitäten.

Vielen Dank für das Interview.

 

Demnächst im neuen DMRZ.de-Blog: Der 3. und finale Teil des Interviews mit Bernhard Borgetto!

 

Teil 1 liest du hier.

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